Infos zu Erziehungsstellen 34 SGBVIII
 
Erziehungsstelle Husen

Jugendhilfe in privatem, familiären Rahmen

Konzeptionelle Gedanken zu Vollzeitpflege Familien / Erziehungsstellen

Was bedeutet professionelle Jugendhilfe im privaten, familiären Rahmen ?

(überarbeitet 02.2010)

Erziehungsstellen sind eine Form der Jugendhilfe, deren Leistung auf die besonderen pädagogischen „Heilkräfte“ und Wirkungen eines  Familiensystems gründet. Es ist eine sehr individualisierte Hilfeform in einem gesellschaftlich als privat und intim definierten Rahmen.

Besondere Wirkkräfte dieser pädagogischen Arbeit sind der ganzheitliche Lebenszusammenhang, das Angebot an Beziehungen die als“ Eltern (ähnliche) Beziehungen“ definiert werden, sowie an „Geschwisterbeziehungen“, wenn noch weitere Kinder in der Familie sich befinden. Die spezifische Leistung dieser Jugendhilfe liegt in dem Angebot 

  • an kontinuierlichen, konstanten und überschaubaren Rahmenbedingungen (übersichtliche „Gruppenstruktur“ Familie, kein Schichtdienst, 2 „Bezugsbetreuer“-Eltern),
  • in der hohen Emotionalität , Dichte und gegenseitigen Verbindlichkeit in den Familienbeziehungen untereinander und 
  • in dem „integrativen“  „Normalitätsprinzip“, d.h. dass Vollzeitpflegefamilien / Erziehungsstellen die aufgenommenen jungen Menschen in ihr persönliches soziales Netz auf und nehmen die „normalen“ Angebote in ihrer sozialräumlichen Umgebung wahr, möglichst „normal“ und möglichst wenig als professionelle Jugendhilfe von außen erkennbar und stigmatisierend (kein Heim-Malus).

Neben der allgemeinen Entwicklungsförderung ist die Hauptarbeit der Pflegeeltern / Erziehungsstellen das ständige Angebot an Beziehung , der Annahme und Verarbeitung von „Übertragungsbeziehungen“ und der Schaffung einer entwicklungsfördernden Atmosphäre von Vertrauen und Sicherheit.Da die aufgenommenen jungen Menschen  aufgrund ihrer Erfahrungen häufig unter Traumata leiden, mehrfach Beziehungsabbrüche und /oder unsichere Bindungen erlebt haben oder unter Verwahrlosung, Vernachlässigung und Mangelversorgung litten, haben sie im Regelfall Verhaltensauffälligkeiten entwickelt, die eine Vollzeitpflegefamilie / Erziehungsstelle zunächst auch in ihrem System erlebt und aushalten können muss, um dann geduldig an einer Veränderung zu arbeiten.

Gegenüber außerhalb der Familie gelegenen Sozialisationsfeldern  =  bestimmte Verhaltens- /Normerwartungen an das Pflegekind, bildet die Vollzeitpflegefamilie / Erziehungsstelle einen Schutz- Vermittlungs- und Reflexionsraum.


Diese Art der Hilfe setzt damit voraus, dass sie nur gelingen kann, wenn es sich um eine ausreichend langfristige Hilfeform handelt, die die neu entstehenden Beziehungen fördert, ihnen eine „Ernsthaftigkeit“ und „Echtheit“ unterstellt und  sie als entsprechend bedeutsam würdigt. Bindung und Beziehung dürfen nicht als bloßes pädagogisches Mittel instrumentalisiert eingesetzt werden. Der Schutz der Bedürfnisse des Kindes, die Würdigung der neu entstandenen Beziehungen und die Anerkennung, dass „öffentliche“ Erziehung in einem gesellschaftlich als „privat“ definierten Rahmen stattfindet, steht damit schnell im Widerspruch zum grundsätzlichen Denkansatz des Kinder- und Jugendhilfe Gesetzes (SGB VIII), dass in erster Linie den Eltern Hilfe zur Erziehung anbietet, in dem die Kinder nicht eigenständige Antragsteller mit Rechtsanspruch sind und in dem eine Rückführung in die Herkunftsfamilie oberstes Ziel ist. Stationäre Jugendhilfe sind „Einrichtungen“ , die in Plätzen und Räumlichkeiten denken und nicht in persönlichen Bindungen und menschlichen / pädagogischen bezügen.

Soll es dennoch gelingen, Herkunftsfamilien in ihrer Erziehungsfähigkeit ausreichend zu fördern und Kindern eine Rückführung zu ermöglichen und  gleichzeitig den Kindern in der Erziehungsstelle / Vollzeitpflegefamilie ein diesen Perspektiven  adäquates Beziehungsangebot zu machen, dann muss schon bei Aufnahme eine sichere Prognose über die zu erwartende Aufenthaltsdauer und den konkreten Einbezug der Herkunftsfamilie, bzw. Art der Elternarbeit und Einbezugs getroffen werden und entsprechend klare Aufträge sind im Rahmen der Hilfeplanung zu definieren, da nur so die Erziehungsstellen „Eltern“ von Beginn an ihr Beziehungsangebot bewusst steuern und dann den aufgenommenen jungen Menschen gegenüber weiter kontinuierlich und ohne Widersprüche anbieten können. Weiter gehört zu dieser Prognosestellung die Beachtung der Bindungs- und Sicherheitsbedürfnisse der Kinder und die Vermeidung vielfacher Beziehungsabbrüche.


Auch der besondere Anspruch an Erziehungsstellen /Vollzeitpflegefamilien professionell zu arbeiten, heißt hier mehr, als „nur“ eine pädagogische Qualifikation ( Erzieher, Sozialarbeiter) vorweisen zu können. Hier muss pädagogische Erfahrung und Handwerkszeug sich mit geeigneter Persönlichkeit, Lebenserfahrung und der Fähigkeit, einen „ganzheitlichen“ Lebens- und Arbeitsstil führen zu können, ergänzen . Die Crux ist jedoch, dass die Arbeitsmittel, die eine professionelle Arbeit z.B. im Heimbereich begründen und öffentliche Legitimation herstellen, wie zum Beispiel Hilfeplanung mit Berichtspflichten, Abrechnung und Nachweis von Taschen- und Bekleidungsgeld, und manche Methoden wie z.B. Ziel Erarbeitungs- und Überprüfungsbögen zum Teil im Widerspruch zu dieser besonderen Hilfeform stehen und daher nicht bedenkenlos übertragbar sind. Anpassungs- und Adaptionsprozesse sind hier nötig, denn wer im privaten Lebenszusammenhang wie im Heim reagiert, verspielt die Vorteile und Besonderheiten dieses Settings.


Die Arbeitsorganisation dieser „privaten“, individualisierten“ und familiären Beziehungsarbeit, wird sowohl auf der Basis als Angestellter eines Trägers angeboten, als auch als Freiberufler (Subunternehmer eines Trägers) oder als Selbständiger (mit eigener Einrichtung / Betriebserlaubnis).  Je nach Organisationsform hat die Erziehungsstellenarbeit  unterschiedliche Risiken.  Ein im Regelfall für alle Organisationsformen gemeinsames Risiko liegt darin, dass eine finanzielle Absicherung nur solange gegeben ist, wie die Erziehungsstellen belegt sind. Das bedeutet, dass es kein Familieneinkommen mehr gibt, sobald ein Kind entlassen wurde. Damit können sich Familien als Erziehungsstellen nur dann ohne Risiko anbieten, wenn sie nicht allein von den Bezügen über die Erziehungsstellenarbeit abhängig sind. Das grenzt leider den Bewerberkreis derjenigen, die diese Arbeit leisten wollen, ein. Im Augenblick scheint es vielerorts sehr schwierig zu sein, überhaupt eine dem Bedarf angemessene Menge an Erziehungsstellen anzubieten.

Da jeder Träger sein eigenes Leistungsangebot und  seine eigene organisatorische Umsetzung erstellt, entsteht damit eine Angebotsvielfalt, die zwar für die Befriedigung der individuellen Bedarfslagen des jungen Menschen nützlich sein kann aber für die Erziehungsstellen „Arbeiter“ eine Vielzahl, fast unüberschaubarer Arbeitsbedingungen und damit verknüpfter Vorteile wie Risiken bedeutet. Es ist anzuraten, dass jeder, der sich für eine solche Arbeit interessiert, sich genau in seinem Umfeld informiert, welche Träger welche Vertragsformen und Arbeitsbedingungen anbieten, da es sowohl „gute“ als auch weniger „gute“ Rahmenbedingungen gibt. Für das sehr nützliche Jugendhilfeangebot „Erziehungsstelle“ ist es sehr bedauerlich, dass diese „ganzheitliche“ Arbeitsform, nämlich eine Verbindung von professioneller pädagogischer Arbeit mit einer Aufnahme in einem privaten familiären Setting, auf Unklarheiten bei diversen Rechtsvorschriften und Arbeitnehmerrechten stößt. „Ganzheitliches Arbeiten“ bedeutet damit häufig bei den Arbeitsbedingungen und den damit verbundenen persönlichen  Risiken, sich  in einem unklaren, teilweise widersprüchlichen  Raum zu bewegen, was derzeit ebenfalls dieses eigentlich tolle Jugendhilfeangebot nicht so attraktiv wie nötig macht.

Folgende Fragen stellen sich: 

Wie kann eine Erziehung „privaten“ Familiencharakter behalten und dennoch eine geplante und professionelle Erziehung sein, die öffentlich legitimiert ist? Wie kann es ausreichenden Datenschutz geben, ohne „gläserne“ Familien zu erzeugen? Wie lange darf es dauern, bis zum Wohle der Kinder eine zuverlässige Perspektive der Aufenthaltsdauer in der Vollzeitpflegefamilie / Erziehungsstelle festgelegt werden kann ohne dass die Herkunftsfamilien dann aber kaum noch Einflussmöglichkeiten haben und ihre Chance auf Herstellung einer Erziehungsfähigkeit „verwirkt“ ist. Wie sieht eine familiäre und kindgerechte Hilfeplanung aus? Wie können Erziehungsstellen / Vollzeitpflegefamilien als Arbeitnehmer sicher arbeiten?

Thesen:

  • Datenschutz und dennoch öffentlich legitimierte Erziehung erfordert klare Aufgabentrennungen seitens der betreuenden Einrichtung und der Erziehungsstelle, zwischen Beratung, Fachaufsicht und Personalleitung.
  • Die Unterstützung der Erziehungsstelle sollte stark supervisorisch über unabhängige Supervisoren erfolgen.
  • Bei Aufnahme in eine Vollzeitpflegefamilie / Erziehungsstelle sollte klar sein, dass familiäre Beziehungs- und Bindungsarbeit nur mit einer bestimmten Langfristigkeit erfolgen kann und dass andere, kurzfristigere Beziehungsangebote in einer Erziehungsstelle einer sicheren Aufenthalts- oder Rückführungsperspektive bedürfen. Eine Erziehungsstelle, die das „falsche“ Beziehungsangebot macht, führt sicher zu Enttäuschungen und wenig Erfolg.
  • Erziehungsstellen sind keine Kurzzeit- und Übergangseinrichtungen und schaffen mehr und tiefere Bindungen als Wohngruppen. Auch bei Erziehungsstellen, die mit älteren Kindern / Jugendlichen arbeiten und sich mehr als „Wohn- und Lebensgemeinschaft“ verstehen und kürzere Aufenthaltszeiten anbieten, sollte der Beziehungsaspekt im Familiensystem nicht unterschätzt werden und eine besondere Sorgfalt auf und eine klare Auftragslage für die Herkunftsfamilienarbeit gelegt werden.
  • Spätestens nach einem Jahr sollte für alle Beteiligten eine klare Perspektive vorliegen, da sonst mit mit Beziehungs- und Orientierungsbedürfnissen der Kinder leichtfertig gespielt wird.
  • Auch Erziehungsstellen nach §34 SGB VIII  brauchen ein juristisches verankertes Anhörungsrecht bei gerichtlichen Streitigkeiten, z.B. Verbleibensanordnungen, Umgangsregelungen etc.
  • Die Hilfeplanung muss sensibel auf den erhöhten Wert von Beziehungsarbeit und Bindungsangeboten eingehen, sowie sich stärker am „Normalitätsprinzip“ orientieren. So sinnvoll eine geplante, zielbezogene und dokumentierte Erziehungsarbeit ist, die anhand von konkret messbaren Indikatoren ihren „Erfolg“ bewertet, so muss dennoch allen Beteiligten klar sein, dass diese im Hilfeplan benannten 3 -5 Erziehungsziele nur einen minimalen Ausschnitt aus der erzieherischen Wirklichkeit darstellen und dass die „eigentliche“ Erziehungsarbeit darin besteht über Beziehung und Bindung einen Entwicklungsraum bereitzustellen, den das Kind selbst nutzen kann und dass eine hauptsächliche Arbeit für die Erziehungsstelle darin besteht, ihr Familiensystem ausreichend belastbar bereitzustellen. Die Arbeit an vordergründigen „Erziehungszielen“ nach einem mechanistischen input – output Modell funktioniert nicht und erzeugt ein scheinwissenschaftliches Bild von Erziehung und wertschätzt die „eigentliche“ Arbeit in der Erziehungsstelle nicht.
  • Auch Besuchsregelungen und Erwartungen an die Herkunftsfamilie müssen der Beziehung und Perspektive zwischen Kind – Erziehungsstelle / Vollzeitpflegefamilie angepasst sein.
  • Wenn Erziehungsstellen ihr Beziehungsangebot ernst nehmen, dann stellt sich insbesondere nach einer Entlassung ( Rückführung oder Verselbständigung) die Frage, welchen Wert diese neue Bindung / Beziehung in der Erziehungsstelle „danach“ hat. Zum Leistungsangebot aber auch zur pädagogischen Arbeit gehört damit auch das Angebot und die Bereitschaft  nach einer Entlassung weiter kontaktbereit für die „Ehemaligen“ bzw. „Familienangehörigen“ zu sein, wenn diese es sich wünschen.